Prozessbericht Prozess #1 Tag 1 – 29.09.2022

Prozesskundgebung

Rund 40 Personen sammelten sich am 29.09.2022 zur solidarischen Prozessbegleitung um 08:00 morgens vor dem Amtsgericht Stuttgart. Aufgerufen hatten die Kampagne „Krawallnacht – Weil’s uns angeht“ und das Aktionsbündnis 8.März, da an diesem Tag ebenfalls einen Prozess aufgrund der diesjährigen Frauenstreikdemo am 8. März Demo stattfand. In Redebeitragen wurde die Solidarität mit allen angeklagten Aktivist:innen bekundet und sich aktiv gegen Spaltungsversuche und die Angriffe der Repressionsbehörden gestellt. In der Rede zur Krawallnacht wurde nochmals auf die Ursachen und sozialen Widersprüche, die zu den Ausschreitungen geführt haben eingegangen und die berechtigte Wut hiergegen verteidigt.

Nach wie vor ist die Öffentlichkeit im Amtsgericht aufgrund von Corona-Auflagen massiv eingeschränkt und es fanden nur 7 solidarische Beobachter:innen Platz im Saal.

Nach Beginn des Verfahrens zogen die verbliebenen Aktivist:innen von der Kundgebung in Richtung Innenstadt. Hierbei wurde am Innenministerium ein Banner angebracht und gemeinsam mit dem Aktionsbündnis wurde das Ordnungsamt am Rathaus besucht, dass die schikanösen Auflagen am 8. März erlassen hat und nun über Bußgelder versucht, die Aktivist:innen weiter zu gängeln. Im Innenministerium ist neben einem Teil der Polizeiführung auch deren „politischer Kopf“ untergebracht und Innenminister und Law&Order Hardliner Strobl hat dort seine Büros. Damit ist es einerseits ein Kristallisationspunkt der Repressionsbehörden. Andererseits wurde mit dem sog. „Stuttgarter Sicherheitskonzept“ hier an den repressiven Folgen der Krawallnacht gearbeitet. Dieses Konzept sieht Fluchtlichtwerfer, massive Polizeipräsenz, Live-Videoüberwachung der Innenstadt und weitere Maßnahmen vor. Auch Innenminister Strobl war an der medialen Inszenierung der Krawallnacht und an der Hetze gegen alle Beschuldigten, insbesondere Linke maßgeblich beteiligt und ist damit ein Verantwortlicher des ganzen.

Das Banner an der Brücke zum Innenministerium weißt nun auf die tatsächlichen Ursachen der Krawallnacht hin: Verdrängung, Polizeigewalt, Rassismus, Ausbeutung & Unterdrückung schaffen den Wut, der sich in dieser Nacht berechtigterweise entladen hat – keine alkoholisierte, männliche „Party- und Eventszene“.

Prozess

Eröffnet wurde der Prozess durch ein 10-minütiges Video das eine Übersicht über die Nacht liefern soll und dabei die „schlimmsten“ Szenen in eine Collage stellt. Ziel war offenkundig, schon zu Prozessbeginn die Schwere der Vorwürfe zu unterstreichen. Anschließend sagte der erste Zeuge,Kriminalhautkommissar Heinemann aus. Er war zuständig für die Koordination der „Ermittlungsgruppe Eckensee“. Er kommentierte das Video weiter und gab eine Zusammenfassung der Ermittlungen. Zu dem Angeklagten oder seinen Tathandlungen konnte er jedoch nichts sagen.

Auf Nachfrage der Anwältin, wie er sich erklärt, dass es auf einmal dazu kommt, dass aufgrund einer Polizeikontoelle 400-500 Jugendliche anfangen die Polizei anzugreifen, konnte er nichts sagen außer „blinder Wut“ und den BLM-Protesten, die seiner Meinung nach in dieser Zeit ein höheres Misstrauen und eine Abneigung gegenüber der Polizei geschaffen hätten. Zumindest hierbei hat er Recht.

Der nächste Zeuge war der (mittlerweile pensionierte) leitende Polizeidirektor Weber, Chef der Stuttgarter Schutzpolizei. Ihn und einen weitere Beamten (PK Müller) soll der Angeklagte mit einem Straßenschild beworfen haben.

So haben sie vor dem Einkaufszentrum Gerber eine „wütende“ Menschenmenge wahrgenommen und PD Weber ist daraufhin in zivil ausgestiegen und fing an mit Pfefferspray auf die Menge zu sprühen. Dies bestätigte er auch auf Nachfrage der Anwältin, ob er zu irgendeinem Zeitpunkt in dieser Nacht erkennbar als Polizeibeamter zu erkennen war und/oder sich zu erkennen geben hat bevor er anfing mit Pfefferspray zu sprühen. Dies verneinte er explizit. An den geworfenen Gegenstand, der zwei Meter vor ihm auf den Boden einschlug, konnte er sich nur so wage erinnern und zu der Person die diesen Gegenstand geworfen hatte konnte er keinerlei Angaben machen.

PK Müller, der Fahrer von PD Weber, kam als nächster Zeuge. Auch er schilderte die Erlebnisse in dieser Nacht. Er fuhr Mit PD Weber in einem Polizeiauto vor das Einkaufszentrum Gerber, wo sich eine randalierende Menschenmenge aufhielt. Nachdem PD Weber ausstieg, stieg auch er aus, um ihn zu unterstützen und zurückzuhalten, da er selbst die Situation als zu gefährlich warnahm. Dann forderte er per Funk weitere Unterstützung an. Auch er konnte zu dem geworfenen Gegenstand keine Angaben machen, da er ihn nicht einmal in Erinnerung hatte und konnte zur Person, die geworfen hatte ebenfalls nichts sagen.

Als dritte sagte KHKin John aus. Sie war in der „Ermittlungsgruppe Eckensee“ ausschließlich zur Identifizierung Linker eingesetzt. Bereits 4-5 Tage nach der „Krawallnacht“ wurde sie in die „EG Eckensee“ berufen, um die Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) auszuwerten. Hierbei sagte sie aus, dass vermeintlich polizeibekannte Linke in der Nacht miteinander telefoniert hätten und teilweise in den Funkzellen der Innenstadt eingeloggt gewesen sind. Weiterhin bekam sie eine unbekannte Auswahl an Fotos bekannter Linker, nach denen sie auf den vorhandenen Foto- & Videoaufnahmen gesucht hatte. Voher diese Fotoauswahl kommt, blieb unklar. KHKin John war bis Oktober 2020 in der Ermittlungsgruppe und wurde dann wieder abgezogen.

Danach kam PKin Fiedler die in der „EG Eckensee“ als zuständige polizeiliche Sachbearbeiterin im Laufe der Ermittlungen an die 6.000 Videos mit eventuellen Vergleichspersonen, die der linken Szene zugeordnet werden, angesehen hat. Als Ansatzpunkte für eine Beteiligung von Linken nannte sie Würfe mit roter Farbe und das Lied „Bella Ciao“ – das sie auf Aufnahmen gesungen gehört haben will. Das dieses Lied sich spätestens seit der Erwähnung in einer bekannten Netflix-Serie einer breiten Bekanntheit erfreut, war ihr neu. Anschließend zählte sie sämtliche vorgeworfenen Taten des Angeklagten aus der Nacht chronologisch auf.

Da die Verteidigerin die benannten 6.000 Videos (ca. 39 GB Material) nicht kannte, diese offensichtlich aber für die Identifizierung und auch die Erstellung des humanbiologischen Gutachtens Grundlage waren, stellte sie einen Antrag, das Verfahren auszusetzen und ihr die Daten weiterzugeben.

Im Anschluss fand die Mittagspause statt.

 

2. Prozesshäfte und Ende des Prozesstages

Nach der Pause gab der Richter dem Antrag insoweit statt, sämtliche Daten allen Verfahrensbeteiligten – also auch der Verteidigung – zur Verfügung zu stellen. Eine Aussetzung des Verfahrens wurde jedoch abgelehnt, da bereits ein 2. Prozesstag am 18.10. terminiert wurde, der für alles weitere ausreichend ist. Auch die Sichtung von 39GB Datenmaterial sei für die Verteidigung in dieser Zeit möglich.

 

Weitere Videos

Im Anschluss wurden Videos gezeigt, die die jeweiligen einzelnen Tathandlungen des Angeklagten zeigen sollen. Wiedererkennungsmerkmal sollen Kleidung (eine Cargohose und eine schwarze Jacke mit Stickerei) und die Statur der Person gewesen sein. Hierzu wurde auch ein humanbiologisches Gutachten erstellt, das beim kommenden Prozesstag vorgestellt wird. Gegen das Zeigen aller Videos legte die Verteidigung Einspruch ein, da sie kaum verwertbar sind. Eine Identifizierung anhand der wage beschriebenen Merkmale sei für sich schon fragwürdig, darüber hinaus sind die Videos von teils mangelhafter Qualität, Sequenzen fehlen, teilweise fehlt der Ton oder sind nur Schemen von Personen zu erkennen.

So auch bei einem Video, das einen vermeintlichen Wurf eines Gegenstandes auf Polizeibeamte zeigen soll, der auch so in der Anklage steht. Zwar ist zu erkennen, dass ein Gegenstand auf die Polizeibeamten geworfen wird, allerdings kommt dieser nachvollziehbar aus einer anderen Richtung und von einer anderen Person, als der, der der Angeklagte sein soll. Dies sahen im Anschluss auch Staatsanwaltschaft und Gericht ein, da jedoch dennoch eine Wurfbewegung zu sehen gewesen sein soll, steht weiterhin der Anklagepunkt im Raum.

Auch ein weiteres Video sorgte für Aufsehen: es stammt aus den Überwachungskameras eines Tesla-Autos. Befinden sich diese im sog. „Wächter-Modus“ geparkt, zeichnen sie automatisch ihre Umgebung auf – gleichwohl dies in Deutschland aufgrund datenschutzrechtlicher Vorgaben unzulässig ist und beim Kauf darauf hingewiesen wird. Entsprechend beantragte die Verteidigung, dass das entsprechende Video nicht gerichtlich verwertet werden darf. Dieser Antrag wurde abgelehnt, da zwar die Datenerhebung widerrechtlich war – wie das Gericht der Verteidigung Recht gab – dies jedoch nicht für die gerichtliche Verwertung gelte.

Im Anschluss wurde die Verhandlung beendet und wird am Dienstag, den 18.10. ab 9 Uhr fortgesetzt.

Die nächsten Prozesstermine stehen nun kommende Woche an. So findet am 18.10. die Urteilsverkündung im 1. Prozess statt und direkt am Mittwoch, 19.10. folgt der erste Prozesstag im 2. Prozess.

Kommt jeweils um 8 Uhr vor das Amtsgericht Stuttgart am Neckartor zur Prozesskundgebung!

 

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