Prozessbericht Krawallnachtprozess #2 Tag 1

Wie bereits beim vorangegangenen Prozess versammelten sich vor Prozessbeginn um 8 Uhr solidarische Begleiter:innen vor Gericht.

Der Prozess startete mit einer kleineren Verzögerung nach 9 Uhr.

Sicherungsmaßnahmen vor Gericht

Wie seit einigen Monaten neuer Trend wurde auch an diesem Prozesstag der Zugang zum Gerichtsgebäude noch auf der Straße vor dem eigentlichen Zugang abgesperrt. Sämtliche Gerichtsbesucher:innen mussten hier angeben, wohin sie wollen und (vermeintliche) solidarische Prozessbegleiter:innen bereits abgewiesen, da die Plätze im Saal bereits belegt seien. Dies stellte sich jedoch immer wieder als Lüge der eingesetzten Cops der Sicherungsgruppe des Gerichtes heraus, um die Begleitung zu schickanieren. Des Weiteren fand im Gericht neben der sonst üblichen Personenkontrolle eine weitere einzig für den Gerichtssaal der Verhandlung statt und sämtliche Gegenstände mussten abgegeben werden, sowie die Ausweise kopiert. Hierzu wurde eigens der Zugang zu den Toiletten im Erdgeschoss gesperrt und sämtliche Gerichtsbesucher:innen mussten auf die Toiletten in den oberen Stockwerken gehen.

Prozessbeginn und erste Häfte

Zu Beginn verlas die Staatsanwältin Ruben die Anklagen. Im ersten Verfahren wird dem Angeklagten eine Beteiligung an der „Stuttgarter Krawallnacht“ – konkret min. ein Wurf mit einem Gegenstand auf Cops, das entfernen von Pflastersteinen aus dem Boden und die Zerstörung der Schaufensterscheiben zweier Juweliere – vorgeworfen. In einer zweiten Anklage wurden zwei weitere Anklagepunkte hinzugezogen. Zum einen ein Angriff auf den IB´ler Anderson Gama nach einer Querdenken-Demonstration Anfang Mai 2020. Zum anderen ein tät. Angriff bei einer Aktion gegen den Auftritt von Annalena Baerbock im Grünen-Wahlkampf auf dem Stuttgarter Marienplatz.

Es wurden durch den Angeklagten keine Aussagen zur Person oder Sache gemacht.

Im Anschluss wurden mehrere Aktenbestandteile per Gerichtsbeschluss in das Verfahren eingeführt: Ein Rahmensachverhalt samt Zeitstrahl und Übersichtskarte der „EG Eckensee“, dienstliche Äußerungen verschiedener Cops aus der Nacht, die eine vermeintliche Beteiligung von Linken bestätigen sollten (Hierzu ausführlicher bereits im letzten Prozessbericht #1 Tag 1) und Lichtbilder aus der Nacht. Im Anschluss folgte ein knapp 11-minütiges Video mit einer Zusammenstellung aus der „Krawallnacht“. Dieses zeigte keine der vorgeworfenen Taten und diente einzig zur Stimmungsmache. So endete es mit der „aufsummierten“ Bilanz der Nacht: 41 beschädigte Ladengeschäfte, 24 zerstörte Polizeiautos und 32 verletzte Cops.

Daran anschließend wurden verschiedene Lichtbilder gezeigt, die den Angeklagten bei den vorgeworfenen Taten zeigen sollen. Diese waren auch die Grundlage des anthropologischen Gutachtens.

KHKin John, die im ersten Prozess umfassender aussagte, wurde nicht gelanden. Teile des Ermittlungsberichtes wurden eingeführt, die Befragung von PKin Fiedler fand am Nachmittag statt.

Zuletzt wurden vor der Mittagspause noch Bilder der Hausdurchsuchung bei dem Angeklagten am 22. März (hier ein Bericht dazu) gezeigt, die jedoch ebenfalls keinen Aussage zu einer Identifizierung oder sonstigem liefern konnten.

Mittagspause von 11 Uhr bis 12:30 Uhr.

 

Zweite Hälfte: Zeugenbefragung

Nach der Pause wurden insgesamt 9 Videos nacheinander gezeigt, die teilweise aus unterschiedlichen Perspektiven die vorgeworfenen fünf Tathandlungen zeigen sollen. Die Qualität der Videos war schwankend, teilweise waren nur schemenhaft Personen zu erkennen und eine genauere Beschreibung der Personen war kaum möglich. Da diese Videos für die Identifizierung im anthropologischen Gutachten benutzt wurden, verschoben sich mögliche Fragen jedoch.

Es folgte die Zeugenaussage von PKin Fiedler, aus der „EG Eckensee“. Diese wiederholte die vermeintlichen Hinweise auf Linke, ohne sie jedoch weiter zu belegen. Im Anschluss ging sie auf die Funkzellenabfrage ein. Hier wurde nach Personen mit Bezügen zum Linken Zentrum Lilo Herrmann gesucht, um so eine organisierte Beteiligung von Linken zu konstruieren. Dies versuchte sie im Anschluss mit einem 20-sekündigen Anruf eines vermeintlichen Linken, dessen Handy in besagtem Zeitraum in der Innenstadt war, mit dem Angeklagten. Dessen Handy war jedoch zu keinem Zeitpunkt der Nacht in der Innenstadt in Funkzellen eingeloggt.

Ihre weitere Aufgabe war zusammen mit weiteren in der „EG Eckensee“ vorhandenes Videomaterial mit vom Staatsschutz zur Verfügung gestelltem Videomaterial über Linke zu vergleichen. Welchen Umfang dieses Material besitzt bleibt unbekannt, es umfasste bei dem Angeklagtem jedoch Videomaterial verschiedener Demonstrationen der vergangenen Jahre – in einem Unfang von mehr als 20 Videos.

Die Videos aus der „Krawallnacht“ stammen teilweise aus dem Internet, aus dem Hinweis-Portal der Cops oder wurden bei anderen Tatverdächtigen aus der Nacht beschlagnahmt. Wie und woher die Videos aus der Anklage zur Ermittlungsgruppe kamen, konnte PKin Fiedler nicht sagen. So befand sich auch in dieser Akte das Tesla-Video (siehe ebenfalls Prozessbericht #1 Tag 1).

Jeglicher Verwertung des Videos widersprach die Verteidigung auch in diesem Prozess. Inwieweit auch weitere Videos illegal entstanden sind, lässt sich aber aufgrund der Umstände nicht rekonstruieren. Nach einer vermeintlichen Identifizierung anhand der Körpergröße, – Statur, sowie Kleidung durch die Ermittlungsgruppe wurde von der Staatsanwaltschaft das Gutachten in Auftrag gegeben.

 

Anthropologisches Gutachten

Zu Beginn stellte der Gutachter Dr. Düring vom „Institut für forensisches Sachverständigenwesen (IfoSA)“ in Geislingen das Gutachten vor.

Bereits hier benannte er eine Vorauswahl der zum Vergleich verwendeten Videosequenzen aus der „Krawallnacht“ durch die Polizei. Diese Vorauswahl spielt im weiteren Gutachten eine wesentliche Rolle. So werden Merkmalswahrscheinlichkeiten (dazu mehr) nicht anhand ihrer Häufigkeit in der Bevölkerung bewertet, sondern einzig an einem undefinierten Personenkreis von „Linken“ auf dem vom Staatsschutz zur Verfügung gestellten Vergleichsmaterial. Das diese Personengruppe jedoch nicht in der „Krawallnacht“ zu finden war – was er selbst nach minutenlangen Ausflüchten und mehreren Fragen durch Verteidiger und Angeklagten einräumte – spielte für seine Bewertung keine Rolle.

Des Weiteren benannte er vier Kategorien an untersuchten Merkmalen, die zu einer Identifizierung „höchst wahrscheinlich“ geführt haben sollen: Körpergröße & -Statur, Kopfmerkmale, Bewegungsmerkmale und Kleidung.

Diese vier Kategorien betrachtete er jedoch nicht isoliert voneinander, sondern beründete fehlende Merkmale oder Ausprägungen immer mit einer vermeintlichen Übereinstimmung in den anderen Kategorien. Des weiteren benannte er nur vermeintliche Übereinstimmungen, jedoch ohne eine Anzahl an unterschiedlichen oder nicht erkennbaren Merkmalen dem gegenüberzustellen.

Beispielhaft wurden durch den Gutachter im Gesichtsbereich 7 Merkmale als gleich bezeichnet. Diese beziehen sich auf den vermeintlichen Abstand von Augenbraue und Auge – erkennbar an Farbschattierungen zwischen unterschiedlichen Pixeln – ohne das er jedoch überhaupt ein Auge erkennen konnte. Einzig seine Position im Gesicht konnte er erahnen. Eine Erkenntnis, die nüchtern betrachtet einzig die Schlussfolgerung zulässt, dass die Person auf dem Videos keine Augenklappe o.Ä. trägt und noch im Besitz zweier Augen ist.

Weitere Merkmale im Gesicht – Ohren, Nase, Mund, Kinn, Wangenbereich etc, – waren jedoch schlichtweg nicht erkennbar, was ihn aber nicht daran hinderte, dennoch eine Identifizierung der Person zu bezeugen. Gleiches galt für die körperlichen Merkmale, bei denen er wage und relativ („größer als“ ohne genaue Zahlen nennen zu können) blieb.

Auch erst durch mehrfache Nachfragen der Verteidigung und des Angeklagten wurde deutlich, dass Aussagen über getragene Kleidung und Accesoires (konkret eine Brille und Armbanduhr, sowie eine Cap) in einem anthropologischen Gutachten fehl am Platz sind. Auch dies hinderte den Gutachter jedoch nicht daran, diese als Merkmale mit zu berücksichtigen. Exemplarisch war das Tragen einer schwarzen Armbanduhr für ihn ein Identifizierungsmerkmal – das dieser Umstand vermutlich auf einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung zutrifft, änderte hieran nichts.

An dieser Stelle intervenierte die Richterin Böckeler und versuchte dem Angeklagten das Stellen von weiteren Fragen zu unterbinden, da die Fragen zu den Textilien und Accesoires keine Sachfragen in Bezug auf das Gutachten darstellen würden, bzw. schon beantwortet wären. Daraufhin meldete sich auch die Verteidigung zu Wort und forderte einen entsprechenden Gerichtsbeschluss, denn wenn mehr als drei Seiten eines 26-seitigen Gutachtens sich ausschließlich hiermit beschäftigen würden, dies sehr wohl Sachfragen sind. Im Anschluss verhinderte die Richterin auch keine weiteren Fragen, war jedoch sichtlich genervt.

Generell muss zu der Form der anthropologischen Gutachten gesagt werden, dass diese kaum als wissenschaftlich bezeichnet werden können. So suchen sie sich in der Methodik einen beliebigen Standard, wie häufig Erkennungsmerkmale vorkommen und wie typisch diese für unterschiedliche Personen sind und benennen in einem zweiten Schritt dann eine Wahrscheinlichkeit der Identifizierung. Das diese Standards beliebig und wechselnd sind räumte der Gutachter Dr. Düring ein, auch könne er diese nicht immer klar benennen. Vielmehr ginge es ja schlichtweg um seine Erfahrung und die „Vielzahl“ der Überschneidungen.

Dass die Merkmalszuschreibung auf bestimmte Bevölkerungsgruppen bzw. Personengruppen darüber hinaus auch eine rassistische Dimension besitzt (Grundlage bilden bspw. Bei manchen Wahrscheinlichkeiten nur die deutsche Bevölkerung) muss ebenfalls gesagt werden.

Über den kompletten Prozesstag hinweg vielen sowohl Staatsanwaltschaft als auch Gericht damit auf, keine Fragen an Zeuginnen, zu Aussagen oder dem Gutachten zu haben. Für sie schien ein Urteil bereits festzustehen.

 

Prozessende und Ausblick

Um 15:25 Uhr wurde der Prozess dann mit Abschluss der Fragen zum Gutachten beendet. Es kam nicht mehr zur geplanten Verhandlung des zweiten Tatkomplexes (Angriff auf IB´ler). Dieser wird nun am kommenden Montag, den 24.10. verhandelt. Der Geschädigte Nazi Anderson Gama erschien trotz Vorladung am heutigen Tag nicht, weswegen er nun polizeilich vorgeführt werden wird.

Nichts desto Trotz ist am Montag ein Urteil im Prozess zu erwarten.

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